MUSIKALISCHE ANAMORPHOSEN

Ein Ensemble mit Originalinstrumenten als Jazz-Combo, ein Darmseiten-Remake der rockigen Seventies, popige Basso-continuo-Arrangements und eine Barocksängerin, die sich im Scat-Singing übt…

Das Konzertprogramm  verspricht einige Überraschungen.

Vielleicht werden Sie sich wie Besucher einer Galerie fühlen, die Bilder von holländischen Meistern des 17.Jahrunderts betrachten möchten und plötzlich vor einem Gemälde stehen, das völlig aus dem Rahmen fällt:

Gelbe, rote und blaue Farbschlieren ziehen sich in konzentrischen Kreisen um eone dunkle Mitte. Man erahnt mögliche Formen, die jedoch zerfließen, als wäre der Bildträger eine rotierende Scheibe, die alle Konturenvor unseren Augen verschwimmen lässt. Das ist keine abstrakte

Kunstdes 21.Jharhunderts. Hier hat sich kein modernes Bild in die Abteilung der holländischen Malerei verirrt. Und so hat sich auch die AlteMusik heute Abend nicht in der Tür geirrt und stattet versehentlich dem Jazz und dem Rock einem Besuch ab. Sie erleben das Phänomen einer Anamorphose.

«Anamorphos» heißt auf griechisch «doppelgestaltig» oder «umgeformt». Der davon abgeleitete Begirff «Anamorphose» ist in der Malerei seit dem 17.Jahrhundert bekannt. Er gilt für Bilder, die ein Motiv bis zur Unkenntlchkeit umformen, damit sie zwei Ansichten bieten: eine scheinbar chaotische, auf den ersten Blick unverständliche, und eine klare und lesbare. In der Bildkunst wurden dafür ganz traditionelle Techniken angewendet, beispielsweise Lasurtechniken in Ölauf Holz, und auch in ihrer technischen Ausführung und in den materialen weisen diese Bilder eindeutig ins 17.Jahrhundert.

Heute Abend erlebt die Anamorphose,bis jetzt nur in der malenden Zunft bekannt, in der Musik ihre Premiere. Sie erleben also Musiker mit ihrem gewohnten traditionellen Instrumentarium. Und dennoch entstehen völlig neuartige Hörweisen. Die in der anamorphotischen Malerei sewollten perspektivischen Verzerrungen durchsetzen nun auch das Altbewährte in der Musik.

Doch wie werden die perspektivischen Verzerrungen entschlüsselt? Noch einmal hilft uns der Vergleich mit der Bildenen Kunst, das von Giorgio Fava und Luigi Mangiocavallo konzipierte Konzergeschehen zu verstehen. Der Schlüssel für doese Vexierbilder ist ein Spiegel.

Erst wenn das Bild waagerecht gelegt wird und ein zylindrischer Spegel auf die dirch das schwarze Quadrat bezeichnete Position gesetz wird, bündeln sich darin die gemalten Formen. Und der Betrachter erkennt das Bildmotiv: bei der untenstehend abgebildeten «Bremer Anamorphose» ist die Kreuzigung Christi dargestellt. Maria und der Lieblingsjünger Johannes stehen trauernd unter dem Kreutz, begleibtet von zwei fliegenden Engeln. Die dunkle Szenerie ist dramatisch beleuchtet durch den hellen Schein hinter dem Kruzifix.

Die perspektivische Verzerrung der heute im Konzert erklingenden Musik ist weniger komplziert als die höchst komplexen Spegelanamorphosen alter Bidlkunst. Die konnten eben nur mit Hilfe zylindrischer, pyramidaler oder könischer Spiegel gesehen werden. Und viele der künstlischen Anamorphosen-Bilder sind heute gar nicht mehr zu entziffern, weil deren Spiegel verloren sind. Die ästhetischen Mittel der darstellenden Anamorphose lassen sich natürlich auch nicht Eins zu Eins in die Musik übertragen.Welchen Spiegel wollte man dem Gehör auch anbieten, damit es klanglisches Chaos filtert? Dennoch haben die Sonatori de la Gioiosa marca vier besonders geschliffene Spiegel ausgewählt, damit sich die verbrgenen Botschaften im Programmablauf bünndeln.

Die programmatische Perspektivenschau konzentriert sich auf zwei stilistisc gewagte farbgebungen. Zum einen auf Werke von Tarquinio Merula, der  als Ordensritter „ Vom Goldenen Sporn“ und Mitglied der „Accademia die Filomusici“ zu Bologna im 17.Jahrhundert zu denganz Großen im kulturellen Leben seiner Zeit in Italien gehörte. Dann ist es die um die Brüder Derek, Ray und Phil Shulman gegründete englische Rockgruppe «Gentle Giant». In den 1970ern in Porthmouth experimentellen Klängen und arbeiteten damals bereits an unerhörten Stilsynthesen zwischen Jazz, Klassik und Rock. Die hochmusikalischen Brüder spielten auf der Bühne bis zu 30 verschiedene Instrumente. Neben den typischen Rockinstrumenten E-Gitarre, Keybord, Buss Drums auch Violine, Violoncello, Blockflöte, Saxophon und Glockenspiel.

Daneben bringen italienische Canzonen der Neuzeit aus der Feder von Pino Daniele und Gino Paoli mediterranes Flair ins Bild. Auch Instrumentalwerke des englischen Barockkomponisten Henry Purcell oder des blind geborenen Komponisten Martino Pesenti aus Venedig empfangen neue akustische Perspektiven. Denn Scat-Gesang mischt sich in die Partitur. Langsam setz sich das akustische Bild des Abends zusammen, das durch literarische Kommentare unter anderem von Litauer Jurgis Baltrusaitis vervollständigt wird. Baltrusaitis verfasste 1955 in Paris das bis heute grundlegende Buch über die Geschichte und Bedeutung der Anamorphose. Aus seiner Sammlung stammt auch die abgebildete Anamorphose, die heute in der Kunsthalle Bremen hängt.

Sabine Weber © WDR 2006